„Es geht doch eh alles den Bach runter!“ Der Jugendliche steht auf, dreht sich um, schüttelt dabei den Kopf und geht weg. Ratlos sitze ich da. Wortlos. Habe ich etwas falsch gemacht?
Nicht für alle und alles habe ich eine passende Lösung. Nicht jeder verlässt lächelnd den Raum, in dem wir miteinander gesprochen haben. Wenn jemand zu mir zum Reden kommt, ist es mir wichtig, ihr oder ihm zuzuhören. Nicht zu werten oder gar zu urteilen über das, was mein Gegenüber persönlich in Worte fasst. Irgendwelche „Patentrezepte“ an die Frau, den Mann, das Mädchen oder den Jungen zu bringen, ist nicht meine Aufgabe. Unterstützen und Mut machen darf ich.
Jener junge Mann, von dem ich eingangs schrieb, hatte zu mir Kontakt aufgenommen. Er wolle „mal reden“, wie er mir via „Teams“ mitgeteilt hatte. Vieles von dem, was er im Gespräch nannte, war nicht positiv. Ernüchternd. Zum Teil frustrierend. Nicht leicht zu tragen und zu ertragen. Für ihn und für mich. Details kann ich nicht nennen. Die Wirklichkeit ist, wie sie ist. Das Leben ist kein Wunschkonzert. Nicht nur in der Schule. Schülerinnen und Schüler und Erwachsene machen sich Sorgen über so manches, das sie mitbekommen. Womit sie, auf welche Weise auch immer, konfrontiert werden. Probleme mit sich und anderen, Streit und Unfreundlichkeiten, Herabsetzungen und anderes mehr bringen an Grenzen. Kriegerische Auseinandersetzungen, wirtschaftliche Probleme, Zukunftssorgen – diese Aufzählung ließe sich vielfach ergänzen. Denn niemand weiß, was morgen sein wird. Das macht unsicher – und nicht selten Angst, damit nicht umgehen zu können.
„Es geht doch eh alles den Bach runter!“ Manches wirkt und ist möglicherweise so dunkel wie auf dem Bild, das ich fotografiert habe. Keine blühendende Landschaft im strahlenden Sonnenschein. Manches nur umrisshaft. Nicht klar erkennbar. Herbstlich. Sich verändernd. Ist tatsächlich schon aller Tage Abend? „Geht doch eh alles den Bach runter?“
Ich bin nicht jeden Tag „gut drauf.“ Es ist eine Tatsache: Keiner ist ohne Sorgen. Wie andere auch, regt mich ebenfalls manches auf, ärgert mich. Dann und wann spüre ich mein Unvermögen und meine Hilflosigkeit. Das ist die eine Seite der Medaille. Es gibt eine weitere, die ganz anders aussieht.
Mehr als zwanzigmal kommt in der Bibel in unterschiedlichen Kontexten dieser Satz vor: „Fürchtet euch nicht!“ Auch zur Zeit Jesu war nicht alles Gold, was glänzt. Nicht alles überfordert mich, ist schlecht oder aussichtslos. Dafür bin ich dankbar. Das baut mich auf.
Obwohl ich meinen Dienst schon jahrzehntelang mache und viel mit Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen zu tun hatte und habe, sehe ich neben dem, was so ist, wie es ist, Licht im Dunkel. Damit bin ich nicht allein. Ähnlich wie bei dem Foto verhält es sich: Sogar, wenn es nicht viel ist und anderes überstrahlt: Einen Lichtschimmer gibt es sogar dort noch, wo manches im übertragenen Sinn „den Bach runtergeht.“ Nochmal: Nicht immer ist alles und jedes schlecht. Ich formuliere das so, nicht, weil ich es muss. Sondern, weil es mir ein Anliegen ist.
Ich selbst bin dankbar dafür, dass ich noch wahrnehme, was Leben lebenswert macht: Menschen, die ehrlich sind und zu mir stehen. Zeitgenossen, die Liebenswertes an anderen entdecken. Sogar noch an jenen, die so ganz anders sind als sie. Kleinigkeiten, die blitzlichtartig Finsternis heller machen. Wenn es auch nur ein Stückchen Schokolade ist.
Tage später erreichte mich vom vorhin skizzierten Jugendlichen folgende kurze Nachricht: „Danke, dass Sie mir zugehört haben. Tat mir gut. 😊“ Nicht nur über den Smiley am Ende habe ich mich gefreut.
Br. Clemens Wagner ofm, Schulseelsorger