21. Oktober 2023

Wortlosigkeit und Hilflosigkeit

Abbild des ältesten monumentalen Sakralbaus des Islam, des Felsendoms. Im südöstlichen Teil der Jerusalemer Altstadt befindet er sich auf dem Tempelberg. Er ist keine Moschee, sondern eine Kuppel über dem „Heiligen Felsen“. Jener war das Zentrum des jüdischen Tempels, der von den Römern zerstört wurde. Bereits seit 1217 leben und arbeiten Franziskaner in Israel zwischen Juden, Muslimen, Christen und anderen. Zwischen allen Stühlen zu sein, ist nicht immer einfach. Nicht nur dort …

Titelbild für Beitrag: Wortlosigkeit und Hilflosigkeit

Wortlosigkeit und Hilflosigkeit

„Man hätte doch …“ „Wenn man gewusst hätte, dass …“ „Wer angegriffen wird, darf sich doch verteidigen!“ Sätze wie diese lassen mich nicht unberührt. Sie machen mich wortlos und hilflos. Am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur („Versöhnungsfest“), am 09. Oktober 2019, versuchte der rechtsextremer Attentäter Stephan B. in Halle, schwer bewaffnet in eine Synagoge einzudringen. Als ihm das nicht gelang, tötete er zwei unschuldige Menschen und verletzte auf seiner Flucht zwei weitere. Dass er die Taten mit seiner Helmkamera filmte und live ins Internet übertrug und sich dabei massiv judenfeindlich äußerte, macht mich sprachlos.

Die Anzahl derer, die bei der, wie Putin es zynisch nennt, „militärischen Spezialoperation“ zwischen Russland und der Ukraine mittlerweile ums Leben gekommen sind, lässt sich nur ansatzweise schätzen. Seit dem Morgen des 24. Februar 2022 veränderte die großangelegte Invasion der Ukraine, die gleichzeitig von Norden, Süden und Osten begonnen hatte, nicht nur die politische Landkarte in dieser Region.

Welches Leid der Angriff von palästinensischen militanten Gruppen unter Führung der Hamas, der am 07. Oktober dieses Jahres gegen Israel aus dem Gazastreifen begonnen hatte, mit sich brachte und welche Folgen er noch mit sich ziehen wird, lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur erahnen. Vom „größten Massenmord an Juden seit dem Holocaust“ wird gesprochen. Der Angriff der Hamas ereignete sich am jüdischen Feiertag Simchat Tora („Freude der Tora“), mit dem die Sukkot-Festwoche endet. Zugleich war es der Tag nach dem 50. Jahrestag des Jom-Kippur-Krieges, der ebenfalls mit einem Überraschungsangriff während israelischer Feiertage begann.

 

Wortlosigkeit und Hilflosigkeit

Wenn ich nicht unmittelbar vom oben Genannten betroffen bin, kann ich sagen „Das geht mich nichts an! Ich halte mich heraus!“ Ist das tatsächlich so? Während wir in Sachsen-Anhalt den zweiwöchigen Herbstferien entgegensehen, geht es bei anderen um ihre Existenz, um ihr Überleben. Ich frage mich: Wer gibt wem das Recht, andere umzubringen? Eine Schülergruppe aus den 11. Klassen des Elisabeth-Gymnasiums war vom 09. bis zum 13. Oktober in der polnischen Stadt Oświęcim. In unmittelbarer Nähe davon befindet sich das Konzentrationslager Auschwitz. Jener Ort, an dem mindestens 1,1 Millionen Menschen von den Nationalsozialisten getötet wurden, die überwiegende Mehrzahl von ihnen Juden. Diese Fahrt und die unmittelbare Begegnung mit dem, was dort geschehen ist, wird die Teilnehmenden und die sie Begleitenden auch in diesem Jahr wieder berührt und nachdenklich gemacht haben.

 

Wortlosigkeit und Hilflosigkeit

Fromme Sprüche helfen mir nicht weiter. Wo Menschen wegen der Grausamkeit anderer um ihr Leben fürchten müssen, hört bei mir die Toleranz auf. „Leben und leben lassen“ greift zu kurz. Manches kann ich schönreden, zu rechtfertigen versuchen oder in harmloser klingende Worte kleiden. Zielführend ist es nicht. Ich spüre meine Ohnmacht, meine Hilflosigkeit. Auch in Israel und in Palästina befinden sich Franziskaner. Manche von ihnen kenne ich gut, weil wir gemeinsam in München studiert haben. Einige von ihnen leben jetzt in ständiger Angst zwischen denen, die sich bekämpfen. Sie versuchen Tag für Tag immer wieder neu jenes umzusetzen und denen näher zu bringen, denen sie begegnen, was im Dezember 1912 in der französischen Zeitschrift „La Clochette“ erstmals veröffentlicht wurde:

 „Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens,

dass ich liebe, wo man hasst;

dass ich verzeihe, wo man beleidigt;

dass ich verbinde, wo Streit ist;

dass ich die Wahrheit sage, wo Irrtum ist;

dass ich Glauben bringe, wo Zweifel droht;

dass ich Hoffnung wecke, wo Verzweiflung quält;

dass ich Licht entzünde, wo Finsternis regiert;

dass ich Freude bringe, wo der Kummer wohnt.“

Mögen alle Menschen guten Willens sich nicht vergeblich darum bemühen, dass jene Worte möglichst bald Wirklichkeit werden können. Trotz mancher Wortlosigkeit und Hilflosigkeit. Wohl nicht nur bei mir.

 

Br. Clemens Wagner ofm, Schulseelsorger