Das Leben mit einer psychischen Krankheit- Die Anorexie
„Du isst aber gut! Willst du wirklich nochmal Nachschlag? Das ist aber eine große Portion. Das hast du alles geschafft? Du hast aber gut gegessen.“
Diese Sätze wirken doch eigentlich recht normal, oder? Es sind Sätze, die wir bestimmt alle schon mal gehört oder gesagt haben. Hinter diesen Sätzen steckt jedoch viel mehr als eine ganz normale Aussage. Für manche Menschen können die Sätze gleich der Anfang und das Ende bedeuten, sie können einen in etwas hineinziehen, aus dem man nur schwer allein wieder herauskommt. Ich rede hier von einer schweren psychischen Krankheit, der Anorexie. Für die Leute, die sich unter diesem Begriff noch nicht viel vorstellen können, hier nochmal eine kurze Definition: Anorexie nervosa, auch Magersucht genannt, ist eine Essstörung, die durch das krankhafte Bedürfnis gekennzeichnet ist, Gewicht zu vermindern.
Aus Erfahrung kann ich sagen, dass diese Definition viel zu kurz ist, um zu sagen, was wirklich hinter dieser Krankheit steckt, was sie mit sich bringt und warum sie so gefährlich ist. Und genau deswegen finde ich es wichtig über dieses Thema zu reden. Damit Menschen informiert sind, auf ihren Ausdruck achten und ein Mitgefühl davon bekommen, wie schwer so etwas ist. Den Anfang dieser Krankheit kann man nicht wirklich definieren. Unbewusst oder auch bewusst fängt man an, sich nicht mehr in seinem Körper wohlzufühlen oder mit sich im Reinen und zufrieden zu sein. Ab diesem Punkt fängt die Krankheit an, sich brodelnd in einem aufzubauen. Sie zwingt einen dazu weniger zu essen, um bspw. seiner Traumfigur näher zu kommen.
Ich sage bewusst sie, da viele nicht verstehen, dass die erkrankte Person selbst dafür nichts kann. Es ist eine Krankheit wie ein Tumor, der sich im Körper ausbreitet, ob man es will oder nicht. Man bemerkt gar nicht, in was man da eigentlich reinrutscht. Mit der Zeit wird man mit dem Essen vorsichtiger, was dazu führt, dass man von Tag zu Tag immer weniger isst; die Gedanken, Schuldgefühle und das schlechte Gewissen werden größer, und die innerliche Spannung nimmt immer mehr zu. Bei dieser Krankheit kann man die Gedanken und Handlungen in zwei Hälften teilen, die Krankheit und die Vernunft, auch Teufels- und Engelsseite genannt. Es ist einem teilweise bewusst, in was man immer weiter hineingezogen wird, möchte vielleicht auch dagegen etwas tun, doch die Teufelsseite hält einen davon ab, sagt einem, man sollte weitermachen, redet einem ein schlechtes Gewissen ein und drängt einen dazu, immer mehr abzunehmen, egal auf welche Art und Weise.
Die Krankheit ist sehr unterschiedlich in der Art, der Ursache, der Fortschreitung und vielem mehr. Ich rede jetzt von meiner Erfahrung und meiner Art und Weise der Krankheit. Ich war unzufrieden mit meinem Körper, wollte dünn und sportlich aussehen und habe somit angefangen, meine Essgewohnheiten zu ändern. Ich habe mich immer weiter hineingesteigert, habe täglich mich stundenlang bewegt und Sport gemacht und habe die sorgenvollen Kommentare und Blicke von meiner Familie und meinen Freunden ignoriert. Mein Teufelskreis wurde immer größer und ausgeprägter. Mit der Zeit überwog die Krankheit meine Vernunft, und ich konnte sie nicht mehr stoppen. Kommentare oder Aussagen verletzten mich immer mehr, Sorgen anderer um mich brachten mir nicht nur ein schlechtes Gewissen, sondern auch ein schuldiges Gefühl, und dann war da noch der ständige Gedanke um Sport und Essen. Aus vier guten Mahlzeiten wurden nach einem halben Jahr zwei Gabeln Salat. Aus einer recht sportlichen Figur wurde ein Körper aus Haut und Knochen. Weswegen man sich fragen kann, warum meine Eltern mich nicht aufgehalten haben. Vorab: ich mache meinen Eltern keinerlei Vorwürfe, was das angeht. Sie haben täglich versucht mit mir zu reden und mir zu helfen. Sie haben alles in ihrer Macht Stehende getan, um zu verhindern, dass ich noch weiter reinrutsche. Für sie, aber auch für mich, war das eine Qual. Immer wieder zu hören, was alles passieren könnte, war schrecklich. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie schwer das für meine Eltern gewesen sein muss. Ab einem bestimmten Punkt haben sie mir den Sport verboten, was aber nur zu einer verstärkten inneren Unruhe führte und ich noch weniger aß. Was für viele unglaublich klingt, ist die Tatsache, dass ich abends, selbst in der schlimmsten Zeit, immer eine Schüssel mit Knabbereien gegessen habe. Aus therapeutischer Sicht war das eine Art Belohnung dafür, dass ich den Tag ohne Essen und mit viel Bewegung überstanden habe. Mich hat sozusagen diese Schüssel am Leben erhalten. Zum Ende hin habe ich leider auch da Abzüge gemacht.
Mit dem Ende meine ich die Zeit, in der meine Einweisung in die Kinderpsychiatrie vorbereitet wurde. Ca. ein viertel Jahr war ich freiwillig, aber auch unfreiwillig ambulant bei einem Psychotherapeuten aufgenommen worden. Ich konnte mich aber nicht richtig darauf einlassen, da meine Krankheit so stark war, dass sich selbst nach mehreren Versuchen der Selbsthilfe nichts geändert hat. Ich wollte nicht akzeptieren, dass ich es nicht alleine schaffe. So habe ich mir Dinge vorgegaukelt und mich selbst veräppelt. Schließlich war meine Krankheit so weit fortgeschritten, dass mir die ambulante Therapie nicht mehr helfen konnte, d. h. ich musste stationär aufgenommen werden. Das erst einmal zu akzeptieren, war sehr schwierig.
Ich wurde wie in einer Blase, abgeschottet von der Welt, aufgenommen. Man fährt von 100 auf 0. Ich durfte von einem auf den anderen Tag nichts mehr tun. Selbstverständliche Dinge wie rausgehen, sein Brot schmieren oder nur den Stuhl anheben, waren mir verboten worden. Die ersten paar Tage und Wochen waren die schrecklichsten. Man möchte gar nicht wahrhaben, dass man für eine geraume Zeit dableiben muss. Es gab aber kein Zurück mehr, so sehr ich es auch wollte. Mir blieb also nichts anderes übrig, als es nach einer Zeit zu akzeptieren und mich auf die Therapie einzulassen. Ab dann war es ein Weg mit Höhen und Tiefen. Es gab gute und schlechte Tage. Es gab schöne und unschöne Nachrichten. Und genau das beschreibt, wie hart so eine Therapie ist. Man ist jeden Tag mit sich selbst und seinen Gedanken im Kopf beschäftigt. Man bemerkt erstmal, was man für einen riesigen Knoten aus Gedanken mit sich herumträgt. Dieser kann verwirrend, deprimierend und erschöpfend sein, doch das heißt nicht, dass man am Abend gut schlafen kann, nein die Gedanken verfolgen einen bis in den Schlaf, wenn man überhaupt in einen Schlaf kommen kann.
Für die Anorexie-Patienten gibt es in der Klinik ein besonderes Konzept. Der Anfang besteht außer der Einzeltherapie scheinbar aus nicht wirklich etwas Sinnvollem. Der Tagesablauf sieht so aus: 6 Mahlzeiten zu sich nehmen müssen, Ruhezeiten, Tabletten nehmen, 10 min pro Dienst mit Begleitung rausgehen, 4-mal täglich Blutdruck messen sowie 1–2-mal wöchentlich eine Einzeltherapie zu haben. So hat man sehr viel Zeit zum Nachdenken. Man kann sich jedoch mit der Zeit mehr Dinge „dazu verdienen“, wie z. B. mehr Therapien, längere Zeit draußen sein zu dürfen und nach einer geraumen Zeit auch den Schulbesuch wieder aufzunehmen oder für kurze Zeit Zuhause zu sein. Man muss nur 500g-1,5kg wöchentlich zunehmen. Ich sage das mit Absicht in diesem Ton, denn es ist nicht einfach so viel oder auch nur so wenig zuzunehmen, man kann seinen Körper nicht kontrollieren und auf das Gewicht einstellen. Ich habe bspw. 3-mal dieses Gewicht nicht geschafft aufgrund eines zu geringen Gewichts und 1-mal aufgrund von zu viel Gewicht. Die Folgen davon sind, dass man die vorbestimmte Belohnung nicht bekommt, und wenn es schlecht läuft, eine Woche Verlängerung bekommt. Und so geht das dann Woche für Woche. Man beschäftigt sich mit seinen Gefühlen, Gedanken und Handlungen und versucht sein Wochenzielgewicht zu erreichen. Immer weiterzukämpfen und nicht aufzugeben ist schwierig, da ständig wieder Hürden kommen, welche einen in ein Tief ziehen, aus dem man sich selbst erst wieder rausziehen muss. Immer wieder aufs Neue positiv zu denken und auf sein eigentliches Ziel zu schauen. Die kleinen und nicht die großen Schritte zu sehen, ist anstrengend und kann sehr deprimierend sein, doch auch die schlechten Tage bringen einen auf seinem Weg dann irgendwie weiter. Das Ziel des ganzen Konzepts ist es, wieder in ein gesundes Leben hineingeführt zu werden, dass man, wenn man in seinen eigenen Alltag wieder zurückkommt, lernt mit der Krankheit zusammen zu leben, ohne dass man wieder zurückfällt. Und genau das ist auch ein sehr schwieriger Punkt. Denn manchmal sind die negativen Gedanken so stark, dass man richtig entgegenarbeiten muss. Bei mir war es oft schon so weit, dass ich richtig erschöpft war, als wäre ich auf einen 3000 m hohen Berg gestiegen und danach noch einen Marathon gelaufen. Zudem ist es schwierig zu akzeptieren, dass die Krankheit nun Teil meines Lebens ist und immer sein wird! Man wird immer wieder mit den Gedanken um diese Krankheit konfrontiert werden, manchmal mehr, manchmal weniger. Man muss stets dagegen ankämpfen, um nicht wieder in alte Schemata zu verfallen. Und genau das ist für mich momentan nicht vorstellbar: in mein früheres freies Leben ohne solche Gedanken wieder zurück zu finden ...
Johanna Spelz, Klasse 10b